Die europäische Heilpflanzenkunde
Naturschätze Europas
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Im dritten und letzten Teil der Reihe zur traditionellen Medizin schauen wir mit unserer Heilpflanzen-Expertin Dr. Heidi Braunewell auf die europäische Pflanzenheilkunde.
Das in Jahrtausenden überlieferte Wissen der Volksheilkunde wurde für unseren Kulturraum in den Kräuterbüchern der Antike und des Mittelalters festgehalten. Lange Zeit waren in Europa besonders Klöster die Stätten, in denen Gelehrte die Heilpflanzenkunde erforschten, erweiterten und bewahrten, etwa die bis heute bekannte Heilerin Hildegard von Bingen (1098–1179). Auch gab es in jedem Ort Kräuterkundige: Männer und Frauen, die sowohl die besten Sammelorte kannten als auch die richtige Anwendung, und die ihr Wissen von Generation zu Generation weitergaben. Ärzte, Apotheker, Bader – damals ausschließlich Männer – setzten die Pflanzen nach festgelegten traditionellen Rezepturen ein.
Von der Weidenrinde zum Aspirin
Mit der Industrialisierung begann der Siegeszug der Chemie. Das erste synthetisch hergestellte Arzneimittel war 1874 die Salicylsäure, gewonnen aus einem Inhaltsstoff der Weidenrinde. Es wurde in Deutschland in großem Umfang produziert und diente als Vorläufer für das heutige Aspirin. Die Naturstoffchemie entwickelte sich zusehends weiter und die Kräuterheilkunde verlor in Europa an Stellenwert. Doch prominente Heiler wie Sebastian Kneipp (1821–1897) hielten das alte Wissen lebendig und erneuerten die Literatur dazu. Bis in die 1950er-Jahre beruhte die Anwendung von Heilpflanzen ausschließlich auf überlieferten Erfahrungen. Dann begann mit den Forschungsarbeiten von Rudolf Fritz Weiß die moderne wissenschaftliche Arbeit: Die Phytotherapie entwickelte sich von der Erfahrungsheilkunde zu einer systematischen und damit lehr- und lernbaren Wissenschaft. Heute werden pflanzliche Arzneimittel generell nach den gleichen wissenschaftlichen Standards wie chemisch-synthetische geprüft. Wegen der Vielzahl wirksamer Inhaltsstoffe in einer Heilpflanze ist die Forschungsarbeit hier jedoch differenzierter und anspruchsvoller.
Interview mit unserer Expertin Dr. Heidi Braunewell
„Heilpflanzen sind wie ein Symphoniekonzert“
Wie wirken Heilpflanzen eigentlich?
Das ist bisher nur zu einem Bruchteil erforscht. Der Grund ist einfach: Ein pflanzliches Arzneimittel besteht immer aus einer Fülle unterschiedlichster Substanzen, die wie ein Orchester zusammenwirken. So, wie wir bei einem Symphoniekonzert kaum sagen können, welches Instrument den besonderen Klang des Orchesters ausmacht, sind es bei Pflanzen die Komposition der Inhaltsstoffe und ihr Mischungsverhältnis zueinander, die die Wirkung bestimmen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja, nehmen wir etwa die Flavonoide, sie verändern die Durchlässigkeit von Zellmembranen, sodass andere Wirkstoffe leichter dorthin gelangen, wo sie ihre Aktivität entfalten. Durch dieses Zusammenspiel reichen meist kleine Mengen aus, um eine große Wirkung zu erzielen – während die Einzelstoffe in schulmedizinisch eingesetzten Medikamenten oft höher dosiert werden müssen und dadurch stärkere Nebenwirkungen haben. Bei pflanzlichen Arzneimitteln sind Nebenwirkungen selten und wenn, dann eher leicht, wie Bauchschmerzen, Übelkeit oder Unverträglichkeit.
Welche Wirkstoffe stecken in Heilpflanzen?
Die Wirkstoffe in Heilpflanzen gehören zu der großen Gruppe der sekundären Pflanzenstoffe. Viele von ihnen kommen auch in Gemüse und Obst vor. Neben den bereits erwähnten Flavonoiden gibt es zum Beispiel noch Gerbstoffe, Bitterstoffe, Schleimstoffe und ätherische Öle. Enthält eine Pflanze besonders viele dieser Stoffe in einer bestimmten Zusammensetzung, hat sie das Potenzial, im Körper therapeutische Wirkung zu entfalten. Gute Beispiele finden wir in der Gewürzküche. Thymian etwa hat antibakteriell wirkende ätherische Öle. Wenn wir es zum Würzen nutzen, erhöht das die Bekömmlichkeit.
Und wie wird daraus ein Arzneimittel?
Setzt man bestimmte ausgelesene oder gezüchtete Sorten ein, sind die Heilpflanzen-Inhaltsstoffe sehr hoch und die Zusammensetzung der einzelnen Komponenten ist optimal, um zuverlässig eine Wirkung zu erzielen. Investiert eine Firma zusätzlich hohe Summen in klinische Prüfungen, kann ein Pflanzenpräparat als Arzneimittel zugelassen werden. Daneben gibt es noch den Status des „Traditionellen Arzneimittels“: Hier liegt ein gut dokumentierter Erfahrungsschatz vor über einen langen Gebrauch für bestimmte Anwendungsgebiete, und es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungen.
Was wird getan, um den großen Erfahrungsschatz zu bewahren?
In der Bevölkerung hat das Interesse an Heilpflanzen nie wirklich nachgelassen. Erfreulicherweise steigt es seit einigen Jahren kontinuierlich. Seit der Corona-Pandemie beobachten wir insgesamt eine intensivere Hinwendung zur Natur, zum Klima- und Umweltschutz und auch zu natürlichen Heilmitteln und Heilverfahren. Und nicht zuletzt sind es auch die Reformhäuser und ihre qualifizierten Fachberater:innen, die das alte Wissen um die Heilkraft der Pflanzen bewahren, anwenden und weitergeben. An der Akademie Gesundes Leben bieten wir schon lange Aus- und Weiterbildungen zu Heilpflanzen an.
Was macht die Gesellschaft für Phytotherapie?
Der Gesellschaft für Phytotherapie geht es vor allem darum, die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen, um den Schatz der volksheilkundlich genutzten Pflanzen in die moderne Wissenschaftswelt zu überführen. In ärztlichen und politischen Gremien sind wir beratend aktiv und es gibt Fortbildungen für Apotheker:innen, Ärzt:innen und auch Student:innen. Außerdem haben wir den Tag der Arzneipflanze ins Leben gerufen, an dem sich in jedem Juni zahlreiche Institutionen beteiligen. Bei allem geht es darum, der Phythotherapie und ihrem großen Potenzial wieder mehr Beachtung zu schenken.
Warum hat es die Pflanzenheilkunde in Deutschland oft schwer?
In der ärztlichen Ausbildung kommen Heilpflanzen so gut wie nicht vor. Apotheker:innen lernen ein wenig mehr darüber. Zum schweren Stand der Phytotherapeutika hat mit beigetragen, dass die Krankenkassen 2008 fast alle pflanzlichen Mittel aus der Erstattungsfähigkeit genommen haben. Das hat bei Ärzt:innen, aber auch bei vielen Patient:innen, zu der Ansicht geführt, dass diese Mittel nicht wirksam seien. Das ist schlichtweg falsch. Grund war damals, dass die Kassen sparen mussten oder wollten. Und dieses klar umgrenzte, noch wenig nach modernen wissenschaftlichen Standards erforschte Therapiegebiet war ein einfacher Weg für eine Leistungskürzung.
Woran erkennen wir, ob ein Heilpflanzen-Produkt ein echtes Arzneimittel ist?
Wenn auf einem Produkt eine Dosierungsangabe, Anwendungsgebiete und „verwendbar bis…“, also ein Verfallsdatum, stehen, ist es ein Arzneimittel. Das Produkt muss damit die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich der Inhaltsstoffmenge und ihrer Zusammensetzung erfüllen. Das wird auch streng kontrolliert.
Stimmt es, dass auf einem Arzneimittel nicht „Bio“ stehen darf?
Das hat das Oberlandesgerichts Düsseldorf so in einem Urteil entschieden. Daher entschließen sich auch manche Hersteller, ihre hochwertigen Pflanzenprodukte als Bio-Lebensmittel zu vermarkten und nicht als Arzneimittel. Hier gilt es, dem Hersteller und seiner Expertise beziehungsweise der Einkaufsstätte und einer guten Beratung zu vertrauen.
Und es gibt auch Nahrungsergänzungsmittel mit Heilpflanzen?
Pflanzenteile oder -extrakte, die noch keinen Arzneimittelstatus haben, kommen als Nahrungsergänzungsmittel in Pulver-, Kapsel- oder Tablettenform in die Geschäfte. Solche Botanicals sind juristisch gesehen Lebensmittel und unterliegen keinerlei Bestimmungen zu Wirkstoffgehalt und -zusammensetzung. Hier ist es besonders wichtig, dem jeweiligen Hersteller zu vertrauen. Gute Beratung ist in dem Fall sehr hilfreich, denn es dürfen zwar Angaben zu enthaltenen Substanzen gemacht werden, nicht jedoch zu Anwendungsgebieten. Die sogenannten Verzehrempfehlungen sind so niedrig bemessen, dass sie garantiert keine therapeutische Wirkung haben. Sonst wären diese Produkte als Arzneimittel einzustufen und als solche sind sie nicht zugelassen, damit also nicht verkehrsfähig.
Wie wenden wir Heilpflanzen am besten an?
Tees sind immer dann das Mittel der Wahl, wenn die Inhaltsstoffe gut wasserlöslich sind. Enthält die getrocknete Pflanze ätherisches Öl, ist es ratsam, die Tasse abzudecken und das Kondenswasser-Öl-Gemisch vor dem Trinken in die Tasse zurücklaufen zu lassen. Beispiele sind Pfefferminztee oder Thymiantee. Eine sehr wirksame Darreichungsform ist der von Apotheker Walther Schoenenberger entwickelte Heilpflanzenpresssaft. Er enthält alle wasserlöslichen und einen Teil der fettlöslichen Inhaltsstoffe fast in der Originalzusammensetzung, wie sie auch in der Pflanze vorliegt.
Was sind Ihre persönlichen Tipps?
Meine Lieblingskombi bei Erkältung ist Thymiantee mit je einem Esslöffel Spitzwegerich- und Andornsaft. Bei bitterstoffhaltigen Arzneitees wie Schafgarbe, Löwenzahn oder Wermutkraut ist zu beachten, dass sie am besten über die Geschmacksrezeptoren im Mund wirken, daher den Tee in kleinen Schlucken trinken.
Dr. Heidi Braunewell, Biologin, Dozentin, Heilpraktikerin und Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Phytotherapie
Europäische Heilpflanzen
Eine Liste mit den europäischen Heilpflanzen und desen Wirkung sowie desen Anwenungsgebiet finden Sie hier.
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